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DER NOSTRADAMUS-COUP

JOHN FINCH


Leseprobe:

13. Juli 1781, Straße nach Cambron, österreichisch-habsburgisches Flandern

„Halt er hier an!“
Graf Joseph von Falkenstein, den man in eingeweihten französischen Kreisen auch den illustren Reisenden nannte, beugte sich vor und klopfte energisch gegen die tapezierte Holzwand der Kutsche.
„Wir machen eine kurze Pause im Wald.“
Während die Kutsche langsamer wurde und Falkenstein sich den Schweiß von der Stirne wischte, sah er seinen Mitreisenden, Fürst Charles de Ligne, aus den Augenwinkeln an. De Ligne sah beneidenswert frisch aus… Die Kleidung makellos, selbst auf dem Gesicht des Fürsten war kein Schweißtropfen zu sehen.
Vielleicht wäre es doch besser gewesen, in dessen nahegelegenen Schloss Beloeil bis zum Abend zu abwarten und sich erst dann auf den Weg zu machen, dachte Falkenstein. Selbst nach der kurzen Fahrt war es heiß in der Kutsche, unerträglich heiß, und der warme Sommerwind, der durch die offenen Fenster strich, hatte in der vergangenen Stunde kaum Linderung gebracht.
De Ligne erwiderte Falkensteins Blick unbewegt und nickte dann etwas gedankenverloren, erneut vertieft in seine Reisenotizen.
„Ja, in der Tat, ein guter Einfall, bevor wir im eigenen Saft sieden …“
Der hochgewachsene Fürst, mit seiner ungebändigten
,grauen Mähne,galt nicht nur als ausgezeichneter Militärexperte und einfallsreicher Diplomat, sondern wurde von vielen als geistvoller und aufgeklärter Denker, Essayist und Biograf geschätzt. Für Falkenstein, der ausgedehnte Reisen durch Europa unternahm, war er der ideale Reisegefährte, der ihn leider viel zu selten begleitete. Der Fürst stand in regem Gedankenaustausch mit den geistigen Größen seiner Zeit,wie etwa Voltaire, Rousseau oder Goethe, war europaweit mit einflussreichen Männern von Kirche und Staat befreundet und aufgrund seiner Intelligenz, seines elegant-gewandten Auftretens und seiner manchmal spitzen Zunge in den höchsten Kreisen sehr beliebt.
Als die Tür aufschwang und einer der Diener den Schemel unter den Ausstieg stellte, drang erfrischend kühle Waldluft ins Innere der Kutsche und Falkenstein atmete auf.
„Ich habe uns einen Korb mit kühlen Getränken einpacken lassen,“ lächelte de Ligne wissend und steckte seinen Notizblock ein. „Champagner aus Epernay, einen jungen Rosé aus dem Elsass und kaltes Wasser aus der Schlossquelle. In dieser Reihenfolge, Exzellenz?“
„Beginnen wir einfach mit dem Wasser,“ erwiderte Falkenstein und atmete auf, als er den moosigen, kühlen Boden unter seinen Sohlen spürte. Zwei Bedienstete wollten eine schwere Decke darauf ausbreiten, aber der Graf winkte ab. „Es wird nur eine kurze Rast,“ meinte er, „wir haben noch ein ordentliches Stück Weg vor uns.“
Sofort trat ein weiterer Diener mit Tablett, Karaffe und Gläsern vor, doch der Fürst kam ihm zuvor.

„Darf ich Euch einschenken?“, erkundigte sich de Ligne und ergriff die beschlagene Kristallflasche.
„Nur zu,“ nickte Falkenstein, „schließlich seid Ihr es, der mich durch diesen unglaublich heißen wallonischen Sommer treibt. Und mir dabei Geheimnisse vor die Nase haltet, wie eine Möhre dem störrischen Esel.“ Dankbar ergriff er das dargebotene Glas mit Wasser, leerte es in einem einzigen Zug. „Aah, das war gut! Wollt Ihr Euch nicht ein wenig mehr erklären? Dies wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, mein Freund.“
De Ligne blickte sich vorsichtig um, nachdem er sein Glas auf das Tablett zurück gestellt hatte. „Kommt, gehen wir ein wenig spazieren,“ meinte er schließlich nach einem Augenblick des Nachdenkens und wies auf einen ebenen Weg, der sich durch die Bäume ins dunkelgrüne Unterholz schlängelte.
Falkenstein sah sich etwas ratlos um. „Aber warum? Hier sind nur Eure Diener und sonst weit und breit niemand.“
„Manchmal hat sogar der Wald Ohren…“, antwortet de Ligne enigmatisch, verschränkte die Hände hinter seinem breiten Rücken und ging ohne weitere Bemerkung los. Falkenstein sah ihm kurz nach, zuckte mit den Schultern und schloss sich endlich dem als geistreichen Kosmopoliten bekannten Fürsten an. Seine Neugier hatte erneut über seine Bequemlichkeit gesiegt.
Und der kühle Wald war verlockend.

„Was sagt Euch der Name Cambron?“, begann de Ligne leise, als Falkenstein zu ihm aufgeschlossen hatte.
„Klingt wie eine Ortschaft,“ erwiderte der Graf nachdenklich. „Sollte es sich etwa um das Ziel unserer heutigen Fahrt handeln?“
Der Fürst nickte und verjagte mit der Hand einige Fliegen, die summend um seinen Kopf schwirrten. „Genauer gesagt handelt es sich um den Namen eines Klosters, das ursprünglich als Abtei ‚Notre Dame de Cambron‘ bekannt geworden war. Von den Zisterziensern im Jahr 1148 gegründet.“
Falkenstein sah ihn erstaunt an. „Ihr kennt mich nun schon so lange und wollt mich in ein Kloster führen? Alte Mauern, in denen unnütze und untätige Mönche ihre Gebete herunterleiern?“
De Ligne lächelte verschmitzt. „Vergebt mir, Exzellenz, aber Ihr werdet gleich verstehen. Cambron ist … anders, war von Beginn an etwas Besonderes. Zwölf Mönche erschienen hier in der Gegend mit einem Mal im Jahr 1148, direkt vom Kloster Clairvaux und seinem berühmten Abt, dem Heiligen Bernhard gesandt.“
„Bernard de Clairvaux?“, stieß Falkenstein erstaunt nach.
„Genau,
der berühmte Bernard de Clairvaux,“ bestätigte de Ligne. „Vehementer Unterstützer der Kreuzzüge, erbitterter Gegner der Katharer, Teilnehmer am berühmten Konzil von Troyes 1129. Unter seiner Ägide gelang es Bernard, die Statuten des Templerordens, an deren Erstellung er maßgeblich beteiligt war, vom Konzil und damit von der Kirche anerkennen zu lassen. Der Orden der bewaffneten Mönche, wie einige die Templer bezeichneten, dessen Aufgabe im Schwingen des Schwertes und im Vergießen von heidnischem Blut bestand. Dieser Orden war damit institutionalisiert, anerkannt von Kirche und Papst. Eines der Gründungsmitglieder, André de Montbard, war übrigens der Onkel des Heiligen Bernhard.“
Falkenstein schwieg und ging nachdenklich neben de Ligne her.
„Damit war der Begriff ‚Heiliger Krieg‘ zum ersten Mal, aber für immer in der offiziellen Begriffswelt der katholischen Kirche eingeführt, wenn ich Euch daran erinnern darf.“

Der Fürst blieb stehen und sah sein Gegenüber durchdringend an.
„1130 ist es Bernard, der in einem Brief an die Templer erklärt, sie hätten disziplinierte Gotteskrieger zu sein, die zwar den Tod bringen würden, ohne jedoch Hass und Stolz zu zeigen. 1145 endlich war er es, der der katholischen Kirche einen neuen Papst gab, Eugen III, seinen eigenen Schüler, dessen wichtigster Berater er auch blieb. Er hatte also zugleich den obersten Hirten der Kirche inthronisiert, als auch dessen bewaffnete Truppe aufgestellt. Auf seinem Weg durch den Süden Frankreichs im gleichen Jahr, einer bekannten Hochburg der Katharer, meinte er nur lakonisch ‚ergreift sie und haltet nicht inne, bevor sie nicht alle vernichtet sind, denn sie haben bewiesen, dass sie lieber sterben, als sich zu bekehren.‘ Damit stand er am Ursprung des Kreuzzuges gegen die Albigenser und die Katharer, die Zehntausenden das Leben kostete und die schlussendlich die kirchliche Inquisition hervorbrachte.“
„Und drei Jahre später lässt genau jener Bernard de Clairvaux das Kloster Cambron gründen, eine Abtei unweit Eures Schlosses.“ Falkenstein klang mit einem Mal interessiert.
„Ein Stück Land am Fluss Dendre wurde ihnen sofort zur Schenkung gemacht, die Zisterzienser genossen damals überall hohes Ansehen,“ fuhr De Ligne fort. „War nicht Papst Eugenius III einer der ihren? Das Kloster und seine Errichtung waren nur mehr eine reine Formsache.“
Für einige Minuten gingen die beiden Männer schweigend nebeneinander, jeder in Gedanken versunken. Sie überquerten vorsichtig ausgetrocknete Furchen, die von den schweren Rädern der Holzfällerfuhrwerke in den Boden gegraben worden waren und den Weg umpflügten.
„Doch weiter in der Geschichte, die uns interessiert, wenn Ihr erlaubt,“ fuhr de Ligne fort. „Am 14. September 1307 wurde, wie Ihr wisst, der Haftbefehl Philipps IVausgefertigt, der alle Templer ohne Ausnahme betraf und der pflichtbewusst am 13.Oktober 1307 - also einen Monat später und das ist äußerst wichtig - von den Schergen des Königs ausgeführt wurde. Seitdem spricht man abergläubisch von Freitag, dem 13. als einen Unglückstag.“
„Mein Aberglaube hält sich in Grenzen,“ warf Falkenstein leichthin ein und sah hinauf zum Sommerhimmel, der sich über einer Kuppel aus grünen Zweigen spannte. „Wir schreiben heute den 13. Juli und es ist ein Freitag.“ Irgendwo tief drin im Wald schrie ein Käuzchen. „Also an einem Tag wie heute?“
De Ligne nickte düster.

„An einem Tag wie heute,“ bestätigte er. „Im Frühjahr 1312 jedenfalls löste Papst Clemens Vden Templerorden auf und beendete mit seiner Bulle fast 200 Jahre Ordensgeschichte . Zwei Jahre später, am 18. März 1314 schließlich,wurde der Großmeister Jacques de Molay zusammen mit Geoffroy de Charnay auf dem Scheiterhaufen in Paris verbrannt.“ Der Fürst machte eine Pause, bevor er leise fortfuhr. „Euer Exzellenz werden sich fragen, was das alles mit Cambron, dem Ziel unserer Fahrt zu tun hat? Nun, wartet ab. Ich habe Euch ein wahrhaft königliches Geheimnis versprochen und Ihr sollt es bekommen.“
Die beiden Männer erreichten eine kleine Lichtung und de Ligne blieb stehen.

„Zurück nach in den Hennegau, nach Cambron. Im Jahre 1322 ereignete sich etwas Seltsames in der Zisterzienserabtei. Wie man aus einigen noch erhaltenen Dokumenten ersehen kann, wurde eine Statue der Jungfrau Maria durch Beschädigung entweiht, Genaueres ist nicht bekannt. Weder der Verursacher, noch der Grund der Profanation wurden jemals ermittelt. Aber das Vorkommnis musste etwas ausgelöst haben, denn im gleichen Jahr begann der Prior des Klosters, ein gewisser Yves de Lessines, an einem Text zu schreiben.“
De Ligne machte eine effektvolle Pause.
„An einem langen Text, Exzellenz, denn es dauerte ganze sechs Jahre, bis er damit fertig war.“
Falkenstein runzelte die Stirn und überlegte kurz. „Lasst mich raten, denn ich kenne Eure Begeisterung für die Vergangenheit und die Literatur, mein Teurer. Dieser Lessines schrieb eine geheime Geschichte des Templerordens, die in den Jahrhunderten verloren ging und dir Ihr nun wieder gefunden habt.“
„Falsch, Exzellenz, ganz falsch,“ versicherte ihm de Ligne energisch und blickte sich erneut um. Doch bis auf das Vogelgezwitscher blieb alles ruhig im Wald, sie waren die einzigen Menschen weit und breit. „Der Text des Priors verschwand angeblich nach der Fertigstellung und tauchte erst rund 200 Jahre später wieder auf, allerdings in einem anderen Teil Europas. Ab da allerdings begann sein Siegeszug. Ja
,man möchte fast sagen, seitdem spricht die ganze Welt davon.“
Der Graf sah ihn verwirrt und fragend an.
„Man zitierte ihn seither tausendfach in den vergangenen Jahrhunderten, er wurde zur Legende, und doch…“ De Ligne zögerte einen kurzen Moment, dann beugte er sich zu Falkenstein, bis sein Mund nur mehr Zentimeter von dessen Ohr entfernt war. Atemlos flüsterte er: „…und doch kennt man ihn heute unter einem ganz anderem Namen. Man nennt die Verse allgemein die Centurien des Michel de Notre Dame, besser bekannt als Nostradamus.“



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