Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü

Gerd2


HEISS

JOHN FINCH



Leseprobe:

9. November 1965, Adrar-Plateau / Mauretanien

Sand und Geröll rutschten nach, mit der Unerbittlichkeit einer Dampfwalze und dem Geräusch einer erbosten Kobra. Die ganze Welt schien erfüllt von einem Zischen und Rumpeln, das immer lauter wurde. Es hörte sich an, als wäre der halbe Berg in Bewegung.
Mit dem Gewicht der Steine kam der Tod, verschoben sich die tonnenschweren Blöcke wie die Bauklötze eines Kinderspiels. Die Falle war genial und tödlich zugleich. Selbst nach hunderten von Jahren war sie noch immer so gefährlich, wie am ersten Tag.
Nur diesmal schnappte sie zu.
Ali Ben Assaid, der sich gerade durch den schmalen Zugang in die große Höhle retten wollte, riss instinktiv den Kopf zurück, als er ein knirschendes Geräusch hörte.
Keine Sekunde zu früh.
Über ihm löste sich ein Steinquader, schien einen Augenblick zu zögern und fiel schließlich, dem Gesetz der Schwerkraft und dem brillanten Plan der Erbauer folgend, mit einem ohrenbetäubenden Knall an seinen vorbestimmten Platz. Damit war der erste der Eingänge verschlossen und die große Fackel unter dem riesigen Block zerquetscht und ausgelöscht.
Mit einem Schlag wurde es stockdunkel.
Assaid fluchte laut und begann im Schein seiner Stirnlampe, tiefer in den unterirdischen Komplex hinein zu laufen. Doch er hatte sich die Position der anderen Zugänge nicht gemerkt und wusste, dass es eine sinnlose Reaktion war. Einfach nur das simple Bestreben, irgendetwas zu tun und nicht hilflos dazustehen und tatenlos lebendig begraben zu werden.
Was hatte er bloß übersehen?
Und wo waren die Aufzeichnungen, die Kisten, die Reichtümer eines Königs, von denen das Dokument berichtet hatte?
Von überall aus der runden, unterirdischen Kammer drangen die gleichen Geräusche. Es war, als würden Dutzende Türen zugeworfen, eine nach der anderen. Als verschränkten sich zwei überdimensionale Muschelhälften nahtlos ineinander, knirschend, endgültig. Gänge wurden blockiert, Räume des weitläufigen unterirdischen Komplexes verschlossen.
Wo war der Auslöser gewesen, den er unbewusst betätigt hatte?
Was um Allah Willen hatte die Falle zum Zuschnappen gebracht?
Und wie hatten es alle anderen vermieden, hier lebendig begraben zu werden?
In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Während er rannte und versuchte, nicht über herabstürzende Steinbrocken zu stolpern oder von ihnen erschlagen zu werden, überlegte sich Assaid fieberhaft, was er falsch gemacht hatte. Mit einem Mal jedoch stutzte er, blieb stehen und legte den Kopf schief, um besser zu hören.
Die riesige Kammer in der Form einer flachen Trommel begann unter dem Ansturm der Geröllmassen zu stöhnen. Laut, unheimlich und mit einem Geräusch, das dem Ägypter alle Haare zu Berge stehen ließ. Selbst die sieben monumentalen Steinfiguren, die in einem weiten Kreis um das Zentrum der Kammer standen, wankten im irrlichternden Kegel von Assaids Lampe.
„Was zum Teufel...“, murmelte der schlanke, junge Mann mit dem dichten Schnurrbart und den stechenden Augen verzweifelt, als er den feinen Schotter durch unzählige quadratische Löcher wie unaufhaltsame Wasserstrahlen herabschießen sah. Zugleich war auch das Zischen wieder da, lauter denn je. Mit erschreckender Schnelligkeit begann sich der runde Raum mit ständig wachsenden Bergen von Geröll zu füllen.
Assaid quetschte sich zwischen den Figuren der Wächter durch, hörte den Stoff seines Hemdes reißen und spürte einen stechenden Schmerz an seiner Schulter. Im fahlen Lichtschein seiner Lampe sah er vor sich den Sarkophag, gläsern und unberührt. Er war bis zum Rand gefüllt mit einer gelblichen, dickflüssigen Substanz, in der ein einbalsamierter Körper wie eine Mücke in Bernstein schwebte.
An den langen Seiten des reich mit Figuren und Blumenornamenten verzierten Steinsockels, auf der das atemberaubende Wunderwerk stand, führten Treppen ins Dunkel. Wenigstens waren im Notfall nicht alle Wege versperrt, hatte Assaid gedacht, als er sie das erste Mal erblickt hatte. Nun schickte er ein inbrünstiges Stoßgebet zu Allah. Die beiden Gänge waren sein letzter Ausweg und er hasste die Endgültigkeit letzter Optionen.
Und er hasste Skorpione.
Bevor er die schmale Treppe betrat, sah der Ägypter genauer hin und die Stirnlampe folgte seinem Blick. Die schmalen Stufen bewegten sich, eine schwarze Masse, die hin und her wogte. Tausende von schwarzen Skorpionen bewachten dicht gedrängt den Eingang in die Unterwelt. Hatte die Seele des Toten im Glassarg diesen Pfad vor ihm genommen, vor Tausenden von Jahren?
Die Nerven Assaids waren zum Zerreißen gespannt. Das Zischen und Rumpeln erfüllte die Luft wie eine massive Wand aus Schall. Panik begann, seinen Körper zu schütteln, seine Hände zitterten unkontrolliert.
Bald wird die Kobra der Berge zustoßen, fuhr es dem schmächtige Mann durch den Kopf, und ich werde sterben. Allein, begraben in einem Berg, inmitten einer Landschaft, die wie aus einer anderen Welt schien. Schroff, wasserlos, rotbraun und ohne jede Vegetation. Ein Berg inmitten von anderen Bergen, die alle gleich aussahen.
Unauffindbar, für immer verschollen in der Steinwüste, wie William ‚Bill’ Lancaster und so viele andere namenlose Piloten, Karawanen oder Patrouillenreiter.
Mit den Tonnen von glühend heißem Stein kam die Hitze in die riesige runde Gruft, ein Zeichen dafür, dass loser Oberflächenschotter nachrutschte.
Assaid brach der Schweiß aus. Unwillkürlich hielt er sich am Sarkophag fest, als er in den dunklen Abgang hinunter blickte, seine Überlebenschancen abwog.
Erschreckt riss er die Hand wieder zurück.
Das Glas war kalt, eiskalt.
Verwirrt sah Assaid zuerst auf seine Handfläche und dann auf das kunstvolle Gebilde aus Glas. Erneut legte er seine Hand auf den Sarkophag und hatte das Gefühl, einen tiefgekühlten Quader zu berühren. Das ist unmöglich, sagte ihm sein Gehirn, aber es blieb ihm keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Kleine Ströme von Sand begannen, sich zwischen den Sockeln der Figuren zu schlängeln, wurden rasend schnell breiter und höher, bewegten sich auf die letzte Ruhestätte des geheimnisvollen Unbekannten zu.
Dann kamen die größeren Steine…
Was, wenn die beiden Abgänge nur zu einem kleinen Kultraum unter dem Sarkophag führten? Der junge Mann aus einer der besten Familien Kairos wagte es nicht einmal, daran zu denken. Er verfluchte seine Besessenheit, die ihn beharrlich bis in die Mauretanische Wüste geführt hatte.
Und direkt in den Tod.
Rasch ergriff Assaid eine der Fackeln, die er noch an seinem Gürtel hängen hatte und entzündete sie. Ihre rußende Flamme loderte hell auf und der Sarkophag schien in dem flackernden Licht aufzuleuchten. Der junge Mann sah genauer hin und der Atem stockte ihm. Fremdartige Zeichen im Glas erschienen, wie von Geisterhand gezeichnet. Es war, als schwebten sie rund um die einbalsamierte Leiche, eine magische Barriere aus unbekannten Buchstaben und Symbolen, dazu bestimmt, den Toten zu beschützen.
Und alle zu verfluchen, die ihm zu nahe kamen.
Der junge Ägypter riss seinen Blick von dem mysteriösen Körper los und leuchtete in den linken Abgang. Die Stufen der engen Treppe verloren sich in der Dunkelheit, die Luft roch schal und abgestanden. Farbige Malereien in Ocker und Königsblau bedeckten die Wände des Ganges.
Die Tausenden Skorpione schienen das flackernde Licht der Fackel nicht zu mögen. Sie versuchten zurückzuweichen, der Flamme zu entkommen, kletterten aufeinander, stapelten sich schließlich in den Ecken in Schichten übereinander. Ihre Aggressivität stieg, die Stacheln waren aufgerichtet, doch die lebendige schwarze Masse wusste nicht so recht wohin...
Einzelne Tiere zogen sich zurück, krabbelten über die Stufen weiter hinunter in die Tiefe, aufgescheucht und angriffslustig, aber ihr Instinkt schien sie vor der Steinflut zu warnen.
Die ersten Sandströme erreichten die beiden Abgänge links und rechts des Sarkophags und dünne Fäden rieselten über die obersten Absätze. Das irritierte die vordersten Skorpione noch mehr. Ahnten sie das drohende Unheil?
Assaid leckte sich über seine trockenen, aufgesprungen Lippen. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit für Entscheidungen. Oder besser gesagt, er hatte keine Wahl: Der Tod war hinter ihm, neben ihm und vor ihm. Als Assaid daraufhin prompt das Bild einer Sanduhr vor Augen hatte, konnte er nicht einmal mehr darüber lächeln.
Die Skorpione wichen ihm aus, als er sich hinab beugte, den Kopf einzog und – die Fackel vor sich erhoben - die erste Stufe betrat. Das unentwegte Zischen des hereinströmenden Gerölls in seinem Rücken erinnerte ihn daran, sich zu beeilen.
Wie hatte sein Freund John Finch, der blutjunge Pilot aus Crawley, zu ihm gesagt, als er erfahren hatte, dass Assaid in die westliche Sahara reisen wollte? „Lass es bleiben. Die Wüste ist ein Ort ohne Erwartungen.“ Das war an der klimatisierten Bar des Hotels Continental Savoy in Kairo gewesen, vor drei Wochen.
Assaid kam es vor wie eine Ewigkeit.
Jetzt verwünschte er sich dafür, dass er Finch nichts von Chinguetti verraten hatte, von dem Dokument und von allem anderen...War es seine krankhafte Vorsicht gewesen? Eine übertriebene Geheimniskrämerei angesichts der unglaublichen Entdeckung, die der Zufall ihm in die Hand gespielt hatte? Oder hatte er im Grunde seines Herzens doch nicht so ganz an die halbwirre Erzählung des alten Mannes geglaubt, der ihn in die Bibliothek geschickt hatte? Wie sollte man auch eine Fata Morgana, das Ergebnis einer überhitzten Phantasie, rational erklären?
Nach anfänglichen Zweifeln hatte bei Assaid die Neugier gesiegt und er war der vorgezeichneten Spur gefolgt. Oder war es die Gier gewesen, die ihn trieb? Alles war eigentlich ganz einfach gewesen…
Zu einfach, wie sich jetzt herausstellte.
Selbst der Geschichtenerzähler auf dem Hauptplatz der alten Karawanenstadt Atar, eine zusammengesunkene Figur in einem fleckigen, hellblauen Burnus, hatte ihm tief in die Augen gesehen, als Assaid vor zwei Tagen am Ende einer der so typischen orientalischen Erzählungen aufgestanden war und sich bedankt hatte. Dem jungen Mann schien es, als könne der unrasierte Alte mit dem stechenden Blick bis tief in seine Seele schauen, als er den Zeigefinger gehoben und nur gemeint hatte: „Le sable mange tout!“
Dass der Sand alles auffrisst, das bekam Asssaid nun am eigenen Leib zu spüren. Der Alte hatte seine Zukunft gesehen...und sein Ende.
Doch noch war es nicht soweit, redete er sich ein und stieg weiter in die Tiefe. Der erste Skorpion zerplatzte unter den Sohlen seiner Stiefel mit einem ekligen Geräusch, dann der nächste. Der Ägypter stolperte nach unten. Wie in einem Kaleidoskop zogen an den Wänden links und rechts von ihm seltsame Malereien vorbei, eine Abfolge von Wandbildern, über deren Alter und Entstehung der Abenteurer nur spekulieren konnte. Sie waren nicht mit den Höhlenmalereien im Tassili n’Ajer im Herzen der Sahara vergleichbar, die er im letzten Jahr besucht hatte. Diese hier stammten definitiv aus einer anderen Epoche.
Bei jedem Schritt tiefer in den Fels hinein änderte sich auch der Stil der Malereien, bis sie schließlich ganz aufhörten. Die Steinstufen waren einem ungleichmäßigen Boden aus Fels, Sand und Steinen gewichen, der sanft, aber stetig bergab führte. Der Tunnel, dem Assaid nun gebückt folgte, war niedrig und schmal. Stellenweise schien er von Menschenhand geschaffen, aus dem rohen Fels geschlagen, dann wieder führte er streckenweise durch höhlenartige, unregelmäßige Hohlräume, wand sich durch den Untergrund wie ein ausgetrockneter Bachlauf.
Und dann war er mit einem Mal zu Ende.
Assaid stand keuchend vor einem fast roten Felsen, der die gesamte Breite des Ganges einnahm.
Kein Weg führte daran vorbei.
Der schmale Tunnel endete in einer Sackgasse. Frustriert schlug der junge Ägypter mit der Faust gegen den Stein, drehte sich um und eilte zurück. Hatte er den falschen Abgang gewählt? War der Weg auf der rechten Seite des Sarkophags der ‚rechte Weg’ und der andere führte Grabräuber und unerwünschte Eindringlinge ins Verderben? Gab es eine Abzweigung, die er übersehen hatte?
Der Ägypter fluchte, während er die Flamme der kleinen geteerten Fackel in seiner Hand beobachtete, die immer schwächer wurde. Er hastete zurück. Kein einziger Gang zweigte ab, da war nichts als massiver Fels. Dann begann die Strecke der Wandbilder wieder, die Malereien schienen im flackernden Licht zum Leben zu erwachen. Primitiv gemalte Kühe grasten, Giraffen hatten ihre Köpfe in Bäumen, Menschen mit runden Köpfen ritten auf Kamelen. Dann erkannte Assaid die ersten Übermalungen. Seltsame Kopfbedeckungen… Er wandte sich ab und hastete weiter. Die Stufen mussten bald beginnen.
Doch an die Stelle der massiven, in den Stein geschlagenen Stufen war eine schräge Wand aus Sand und Schotter getreten, der unaufhörlich nachrieselte.
Dann erlosch die dünne Fackel und Assaid schaltete mit fiebrig-tastenden Finger die Stirnlampe ein. Im gelben, matten Licht der kleinen Glühbirne sah er, wie sich überall Skorpione aus dem Sand hervorwühlten.
Es war, als schien sie der Sand auszuspeien. In Strömen bewegten sie sich langsam auf ihn zu, ein schwarzer Teppich aus dünnen Beinen und kampfbereit erhobenen Stacheln.
Assaid drehte sich fluchend um und rannte los.

Zwei Stunden später waren die Batterien seiner Stirnlampe leer und das letzte Licht war erloschen. Undurchdringliche Schwärze umgab ihn. Es war totenstill, selbst das Zischen des rieselnden Sandes war verklungen. Nur noch die Leuchtziffern am Zifferblatt seiner Armbanduhr waren Assaid geblieben. Am Ende des Ganges, am Fuße des schwarzen Felsens zusammengekauert, wartete er auf die Ankunft der Skorpione.
Er würde sie nicht sehen können, aber vielleicht hören.
Dann würde alles sehr schnell gehen.


Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü